Wort-Vertrauen

Ich habe das Gefühl, wir müssen mal eine wichtige Diskussion führen über "Wort-Vertrauen". Der große Vorteil der Menschen gegenüber Tieren ist, dass sie Wissen, Gedanken und Konzepte durch Sprache über Entfernungen und Zeiten vermitteln können. Wenn der Steinzeitmensch auf die Jagd ging, konnte ihm sein Kollege von seiner letzten Tour genau erzählen, wo er gute Beute gesehen hat, wo die gefährlichen Tiere waren, welcher Fluss gerade Hochwasser hatte usw. So können wir Menschen ganz anders mit unserer Umwelt umgehen. Aufgrund von Informationen können wir planvolle Entscheidungen treffen. Wer viele Informanten hat, hat viele Informationen und kann differenziert abwägen.

Heute leben wir in hoch komplexen Gesellschaften, die seit ein paar hundert Jahren immer mehr Möglichkeiten der Mitbestimmung für einfache Bürger entwickelt haben. Dies ging einher mit der Entwicklung von Informations-Transport über immer weitere Stecken. In der frühen Neuzeit begann man mit dem Druck erster "Zeitungen" - vor allem Kaufleute hatten Interesse an schnellen und zuverlässigen Informationen aus fernen Ländern. Dafür waren sie bereit, Geld zu bezahlen, an Informanten, die sie für zuverlässig hielten, also für willens und fähig, zugleich zuverlässig zu sein und das Wichtige aus der Informationsflut herauszuschälen.

Schnell war klar, dass Wissen in diesem Fall Macht bedeutet. So entstanden Zensur- und Propagandabehörden. Wer weiterhin Interesse an zuverlässigen Informationen hatte, hatte Interesse an unabhängiger Presse. Deswegen hat jedes Pressehaus, jede Medienanstalt heute einen journalistischen Ehrenkodex, legt einerseits ihre politische Verortung offen (z.B. Spiegel und taz sind links, Focus ist konservativ...) verpflichtet sich andererseits auf parteipolitische Unabhängigkeit und Faktengenauigkeit, etc., der journalistische Ehrenkodex, halt.

Zurück zum "Wort-Vertrauen" (den Begriff hat m.W. der Cambridge-Professor Bernd Wannenwetsch geprägt): Wir sind auf zuverlässige Informationen angewiesen. Die können wir aber nur in sehr geringem Maße selbst nachprüfen. Deswegen hängt unsere Urteilsfähigkeit von unserer Fähigkeit ab, die Zuverlässigkeit unserer Informationsquellen zu beurteilen. Da kann man natürlich auf zwei Seiten vom Pferd fallen. Leichtgläubigkeit ist die eine Seite, Hyperkritik die andere. Wer keinem mehr glaubt, weiß gar nichts mehr. Nehmen Sie mal die Schule als Beispiel, und stellen Sie sich vor, sie wären Ihrem Physiklehrer mit dem gleichen Misstrauen begegnet, mit dem heute viele von "Lügenpresse" reden. Sie hätten keine Ahnung von Physik. Ich glaube, mit jedem Schritt, den wir tun, Vertrauen wir bereits, wenn wir ein Haus betreten, eine Brücke überqueren, ein Verkehrsmittel benutzen, immer tun wir es im Vertrauen auf deren Konstrukteure, dass das Haus eben nicht einstürzt, etc.

Wir müssen also vertrauen. Die Frage ist nicht, ob wir vertrauen, sondern wem wir vertrauen. Und natürlich wie weit wir jeweils vertrauen, was wir wem glauben, und welche Entscheidungen wir darauf gründen. Darum meine ich, wir sollten uns hüten, Begriffe wie "Märchen", "Lüge", "Propaganda", "Fake" leichtfertig zu verwenden. Wer so etwas sagt, der sollte wissen, woher er denn zuverlässigere Informationen bezieht, sonst weiß er am Ende gar nichts mehr. Alles zu kritisieren hört sich zwar klug an, macht aber am Ende unfähig, Entscheidungen zu treffen - bzw. was ich viel mehr befürchte, es macht anfällig dafür, irgendeinem Scharlatan aufzusitzen, weil man nicht mehr gewohnt ist, sich in dem grau-grau vieler Informationen zurechtzufinden.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich stehen auch in qualitativ hochwertigen Zeitungen falsche Nachrichten und Einschätzungen. Aber das macht diese nicht überflüssig. Wir müssen lernen, differenziert wahrzunehmen. Und wir brauchen Journalisten, die ihr Handwerk verstehen, die Pressefreiheit genießen und nutzen, die der Wahrheit verpflichte sind. Diese

müssen wir auch fördern und unterstützen. Sie sind wichtig für unsere Freiheit.

 

Ich denke, Medienkompetenz besteht oft darin, den richtigen Weg zwischen Kritik und Vertrauen zu finden. Jedes dieser Extreme führt in die Verwirrung und macht Demokratie unmöglich. Vertrauen muss nicht nur gewonnen werden, sondern auch gesucht und geschenkt werden. Ich meine nicht bedingungsloses Vertrauen, sondern kritisches, informiertes Zuhören. Wenn Sie keine Medien mehr haben, denen Sie vertrauen, dann wissen Sie nichts mehr. Am Ende können Sie nur noch im Wald sitzen und wilde Beeren essen, weil Sie ja auch den Lebensmittelproduzenten nicht vertrauen können, und den Architekten, die unsere Häuser sicher machen usw. Das relativierende Schlechtmachen unserer Presselandschaft halte ich für sehr gefährlich, weil sie die Fähigkeit beschädigt, sich selbst zu informieren. Dann entsteht ein Vakuum, in dem Lügner und Scharlatane leichtes Spiel haben.

 

Otto Guggemos